Miniaturisierung: Zukunft und Grenzen

Miniaturisierung: Zukunft und Grenzen
Miniaturisierung: Zukunft und Grenzen
 
Die Mikroelektronik, der Pfadfinder der Mikrotechnik, hat innerhalb nur einer Generation unsere Welt und unser aller Leben verändert. Schlüssel zu diesem Erfolg waren Fortschritte in unterschiedlichen Sparten der Physik, aber vor allem die Erfolgsstrategie »Miniaturisierung«. Deren Erfolge wurden möglich durch radikale Veränderungen in der Fertigungs- und Automatisierungstechnik und nicht zuletzt durch einen nie versiegenden Bedarf des Markts nach immer kleineren und in immer größeren Stückzahlen zu fertigenden Bauteilen in fast allen Bereichen der industriellen Produktion.
 
Die Mikrotechnik wendet das Konzept der Miniaturisierung nun auf gänzlich andere Funktionen an als nur die Herstellung elektronischer Schaltkreise. Auch die nichtelektronische Mikrotechnik ist mittlerweile in alle Lebensbereiche vorgedrungen; aus einigen ist sie bereits nicht mehr wegzudenken: Schreib-Lese-Köpfe von Computerfestplatten, die Oszillatoren in Quarzuhren, Beschleunigungssensoren in Kraftfahrzeugen und die Druckköpfe in Tintenstrahldruckern sind heute weit verbreitet. Diese Beispiele deuten bereits an, dass die Verfahren der Mikrotechnik weitaus vielfältiger und ihre Produkte vielgestaltiger sind, als es bei der Mikroelektronik der Fall ist. Tatsächlich ist die Entwicklung der Mikrotechnik keine einfache Kopie der Erfolgsstory der Mikroelektronik — oft müssen andere, gänzlich neue Wege in Forschung, Entwicklung und Fertigung gefunden werden. Mikroelektronische Komponenten greifen primär auf die schmale Palette von Halbleiterwerkstoffen zurück und können durch aufeinander folgende, meist gut miteinander kombinierbare Prozesse hergestellt werden. Zur Realisierung von Mikrosystemen ist dagegen die Verarbeitung einer weitaus größeren Palette von Materialien notwendig, und diese müssen oft mit untereinander nicht verträglichen Verfahren bearbeitet werden. Hieraus erwächst für die Montagetechnik, also das Zusammenfügen der unterschiedlichen miniaturisierten Komponenten, eine besonders wichtige Rolle. Selbst Fachleuten fällt es daher schwer einzuschätzen, welches Potenzial für neue Entwicklungen die Mikrotechnik in sich birgt und mit welcher Geschwindigkeit es umgesetzt werden kann.
 
 Noch nicht am Limit der Machbarkeit?
 
Die Mikrotechnik bietet bekanntlich Platz für Visionen: Das Projekt einer künstlichen Hummel, eines fliegenden Mikroroboters zur Befruchtung von Kulturpflanzen, ist ein Beispiel, an dessen Umsetzung bereits gearbeitet wird. Ein Unterseeboot, das durch menschliche Blutgefäße schwimmt, um Arterienverkalkung vor Ort zu bekämpfen, ist in mehreren Hollywood-Produktionen bereits präsentiert worden — diese Vision gehört aber sicher noch in den Bereich der Science-Fiction. Ähnliches gilt wohl auch für die Schwärme kleinster Haushaltsroboter, die nachts durch die Wohnung huschen, hinter Schränken und unter dem Teppich Staub sammeln oder wie Schnecken an den Glasscheiben entlang kriechen, um diese zu reinigen. Ob wir die Wohltaten solcher technischen Heinzelmännchen in Zukunft werden genießen können, ist sicherlich sehr schwer vorherzusagen. Andererseits: Zeigt das Aufkommen so vieler Visionen angesichts einer neuen Technologie nicht gerade, dass es bereits heute das Bedürfnis nach solchen Geräten gibt? Oder drückt sich darin schon das Bemühen aus, solche Bedürfnisse in den Kunden von morgen (oder übermorgen) zu erzeugen? Auf jeden Fall macht gerade die Entwicklung der Mikroelektronik deutlich, zu welch scheinbar unmöglichen Fortschritten Forschung und Technik getrieben werden können, wenn ein entsprechend aufnahmefähiger Markt vorhanden ist.
 
Wenn also von der Zukunft und den Grenzen der Miniaturisierung die Rede ist, muss man physikalisch-technische, aber auch gesellschaftliche und wirtschaftliche Aspekte berücksichtigen. Denn selbst wenn sich die Mikroelektronik bisher mit fast naturgesetzlicher Genauigkeit gemäß dem Moore'schen Gesetz entwickelt hat: Es liegt auf der Hand, dass diese Entwicklung nicht ad infinitum so weitergehen kann; und für die Mikrotechnik gibt es bisher nicht einmal ein Moore'sches Gesetz. Die leichtere Frage in diesem Zusammenhang ist die nach den physikalisch vorgegebenen Grenzen der Miniaturisierung.
 
Betrachten wir als Beispiel die Miniaturisierung in der Mikroelektronik; diese betrifft neben den Prozessoren vor allem die Speicherbausteine. Stand der Technik sind heute (1999) Speicherchips mit einer Kapazität von 256 Megabit. Ihre kleinsten Strukturbreiten betragen etwa 250 Nanometer. Auch der Ein-Gigabit-Speicher mit Strukturbreiten von 180 Nanometern ist bereits realisiert worden. Um das Jahr 2003 werden wahrscheinlich die ersten Vier-Gigabit-Speicherchips in Produktion gehen — mit Strukturen von nur noch 130 Nanometern —, dies ist kaum mehr als das Hundertfache eines Atomdurchmessers! Zu ihrer Herstellung wird vor allem die CMOS-Technologie eingesetzt werden, die zu Strukturen führt, deren Grenzen durch die zugrunde liegenden Lithographieverfahren bestimmt werden. Mit den heute vorherrschenden optisch basierten Lithographietechniken lassen sich Strukturbreiten erreichen, die nicht wesentlich unter 100 Nanometern liegen. Direktschreibverfahren mit Elektronenstrahlen können dagegen Strukturen von weniger als 50 Nanometer Breite erzeugen, mit Ionenstrahlen sogar bis hinunter zu drei Nanometern. Allerdings arbeiten diese Verfahren heute noch seriell, also Schaltung für Schaltung, und damit sehr langsam. Parallel arbeitende Direktschreibverfahren mit Maskenprojektionen befinden sich in der Entwicklung, sie könnten eines Tages die Lithographieverfahren ersetzen und Chips mit wenige Nanometer großen Strukturen in großen Serien erzeugen. Aber nicht die Herstellungstechnik, auch die physikalische Natur der Elektronen beschränkt die Strukturgrößen nach unten hin, und zwar auf fundamentale Weise. Elektronen, die in der heutigen Mikroelektronik die wesentlichen Informationsträger sind, besitzen nach den Gesetzen der Quantenphysik ebenso wie Licht eine Wellenlänge. Diese liegt bei den in der Mikroelektronik verwendeten Spannungen knapp unter einem Nanometer, das ist etwas mehr als ein Atomdurchmesser. Besitzen die Leitungen und Speicher Abmessungen in dieser Größenordnung, so machen sich Beugungs- und weitere Quanteneffekte bemerkbar, die eine völlig neue Betrachtungsweise erfordern. Hierin liegt aber auch gleichzeitig die Chance, völlig neue Bauelemente und Rechnerarchitekturen zu entwerfen — in diesem Zusammenhang fallen oft die Schlagworte »Quantenlogik« und »Quantencomputer«. Neuere Erkenntnisse der Quantenphysik und Strukturierungsmethoden wie beispielsweise die Molekularstrahlepitaxie werden vielleicht dabei helfen, Quantentöpfe, Quantendrähte und Quantenpunkte zu realisieren, die eines Tages Schaltelemente eines Quantencomputers sein könnten. Ein Beispiel ist der Ein-Elektron-Transistor, an dessen Verwirklichung bereits gearbeitet wird. Zum Vergleich: Heute benötigt ein Schaltvorgang auf einem Speicherchip noch einige 10 000 Elektronen, ein Kubikmikrometer (also ein Würfel mit einem Mikrometer Kantenlänge) Wasser enthält einige Hundert Milliarden an die Atome gebundene Elektronen.
 
Aber was ist überhaupt die kleinste mikrotechnisch herstellbare Struktur? Mit ultraspitzen Sonden, wie sie in Rastertunnelmikroskopen oder Rasterkraftmikroskopen Verwendung finden, kann man heute nicht nur die Struktur einer Oberfläche im atomaren Maßstab abbilden. Man kann diese Sonden auch dazu verwenden, einzelne Atome zu verschieben und zu Mustern zu gruppieren. Damit kann man einerseits wenige Atome breite Schaltelemente konstruieren. Andererseits kann man diese Technik aber auch zur Datenspeicherung nutzen (allerdings sind nun nicht mehr Elektronen das Speichermedium): Die Daten werden »einfach« in Mustern aus gezielt angeordneten Atomen kodiert. Freilich ist das Tempo dieser Art Datenspeicherung noch äußerst langsam.
 
Ist die Grenze der Speicherdichte mit diesen Mustern aus einzelnen Atomen erreicht? Nein! Es existieren bereits Konzepte, komplexere Informationen innerhalb nur eines einzigen Atoms abzulegen, genauer gesagt, in den bis zu 80 Elektronen, welche die Hülle eines Atoms bilden. Dazu könnte man diese Elektronen in speziellen langlebigen Zuständen mit großem Abstand vom Atomkern so anordnen, dass diese Anordnung beispielsweise einem Byte Daten entspricht. Atome, deren Elektronen sich in einem Zustand weit weg vom Kern befinden, werden »Rydberg-Atome« genannt. Eine Reihe solcher Atome könnte man dann zu einem Speicherelement zusammenfügen. Von Mikrotechnik im Sinne von »mikrometergroßen Strukturen« kann man hier allerdings schon nicht mehr reden. ..
 
 
In der Tat verläuft die Entwicklung rascher, als wir alle uns dies noch vor wenigen Jahren vorstellen konnten. Nicht nur bei der Konstruktion der nächsten Speicherchipgeneration, sondern auch in den verschiedensten Bereichen der Mikrotechnik wird an Bauteilen mit nanometergroßen Abmessungen geforscht. Für diese Bemühungen hat sich der Begriff »Nanotechnologie« eingebürgert. Die Bedeutung, die dieser Forschungsrichtung beigemessen wird, ersieht man beispielsweise an der staatlich unterstützten Gründung des »Centers for NanoScience« in München und ähnlicher Forschungseinrichtungen.
 
Allerdings sollte man die »konventionelle« Nanotechnologie, bei der mehr oder weniger etablierte mikrotechnische Verfahren auf kleinere Abmessungen übertragen werden, einer kritischen Betrachtung unterziehen. Vergleichen wir etwa die oben beschriebene Manipulation von Atomen oder Molekülen mit Rasterkraftmikroskopen mit den Dimensionen der Bausteine, aus denen die Mikrostrukturprodukte geformt werden: Solch ein Vorgehen muss einem so vorkommen, als wolle man mit einem Bagger einzelne Legosteine zu einem sinnvollen Ganzen zusammenschieben. Natürlich lassen sich so Mikro- oder Nanostrukturen aufbauen, aber nutzt man dabei die Verschiedenheit möglicher Bausteine oder gar ihre individuelle Funktionalität? Mitnichten. Von den benutzten Ausgangsstoffen benötigt man einen überaus großen Teil als stützendes Substrat oder Umhüllung und von den Zwischenprodukten geht das meiste durch Ätz- oder andere Abtragprozesse wieder verloren. Und die eingesetzten Geräte sind, wie gesagt, monströs im Vergleich zum Produkt. So betrachtet ist dies eigentlich eine sehr unökonomische Art der Produktion.
 
Ganz anders wäre es, wenn man mit Werkzeugen, die selbst molekularer Natur sind, arbeiten könnte. Eine große Zahl dieser Werkzeuge könnte dann die molekularen Ausgangsstoffe Stück für Stück zu größeren Strukturen mit neuen funktionalen Eigenschaften zusammenlagern. Für diesen Ansatz gibt es, wie so oft, ein großes Vorbild aus der Natur. Der Bauplan für einen kompletten Menschen befindet sich in einem einzigen großen Molekül, der DNA, die beispielsweise im Kern von befruchteten Eizellen enthalten ist. Und die Umsetzung dieses Bauplans geschieht vollständig mithilfe von hoch spezialisierten Molekülen, welche die Erbinformation lesen, übersetzen und bewirken, dass sich ganze Ketten von Molekülbausteinen bilden. Diese werden wiederum von anderen spezialisierten Molekülen weiter bearbeitet, bis sie die verschiedensten Funktionen übernehmen können. Auf diese Weise sorgen Enzyme für den Aufbau von Eiweißen, Hormonmoleküle beeinflussen in winzigen Mengen den Ablauf komplexer Körperfunktionen, Kanäle aus Molekülen lassen selektiv Stoffe in eine Zelle hinein- oder aus ihr herausgelangen.
 
Könnten wir nicht nach diesem Vorbild molekulare Werkzeuge herstellen, die für uns neue Mikroprodukte zusammenbauen, anstatt immer kleinere Strukturen mit unseren »Makromaschinen« erzeugen zu wollen? Ließen sich — planmäßig wohlgemerkt — Moleküle »erfinden« und aus einzelnen Atomen zusammensetzen, die spezielle ihnen zugewiesene Fertigungsaufgaben erfüllen? Die vielleicht sogar sich selber reproduzieren, andere Moleküle gezielt auffinden oder sich zu größeren Molekülverbänden zusammenlagern können? Können diese Verbände dadurch neue Funktionen erhalten und andere, komplexere Aufgaben wahrnehmen? Wie weit ist molekulares Verhalten vorausplanbar? Die Forscher, die sich mit diesen und einer Fülle noch komplizierterer Fragen beschäftigen, sprechen allerdings nicht mehr von Mikrotechnik, sondern von (molekularer) Nanotechnologie.
 
Die Nanotechnologie untersucht bevorzugt solche »Bottom-up«-Ansätze (von unten nach oben); im Gegensatz dazu ist die Mikrotechnik eine »Top-down«-Technologie (von oben nach unten). In der Nanotechnologie geht man davon aus, dass die moderne Chemie zunehmend in der Lage ist, das Verhalten von Molekülen allein aus der atomaren Zusammensetzung immer besser vorauszusagen und letztlich auch Moleküle mit gewünschten Eigenschaften maßzuschneidern. Dieses »Molecular Engineering« führt heute bereits zu neuen Wirk- und Werkstoffen, die aus vielen geschickt miteinander kombinierten Molekülbausteinen bestehen. Insbesondere der Forschungszweig der »supramolekularen Chemie« hat sich den Beziehungen und räumlichen Anordnungen von Riesenmolekülen verschrieben. Besonders faszinierend ist dabei die Fähigkeit mancher großer Moleküle, sich gleichsam von selbst zu komplexen Strukturen zu verbinden, die Fähigkeit zur Selbstorganisation.
 
 Die Vision der Nanotechnologie
 
Das ehrgeizige Ziel dieser Nanotechnologen sind »molekulare Assembler«, auf Deutsch: Zusammensetzer. Dies sind Maschinen auf molekularer Ebene, die jedes gewünschte Produkt aus kleinen Molekülbausteinen zusammensetzen können. Wie komplizierte Rechen- und Steuerungsaufgaben im Computer in wenige Grundoperationen auf der Ebene der Bits und Bytes zerlegt werden, so sollen nanotechnische Fertigungsaufgaben in molekulare Einzelschritte aufgeteilt werden. Die Grundsubstanzen müssen lediglich an den richtigen Stellen der Moleküle miteinander reagieren, und die resultierenden Moleküle müssen sich dann zur gewünschten dreidimensionalen Struktur anordnen. Die Assembler hantieren mit molekularen Werkzeugen, die dies bewerkstelligen, angetrieben durch molekulare »Motoren«, die zyklisch kleine Moleküle transportieren und bearbeiten. Andere Moleküle müssen an den Zwischenprodukten die Stellen erkennen können, wo weitere, andersartige Bausteine zur Realisierung übergeordneter Funktionen andocken können. Strukturierung, Integration, Montage: Alle Fertigungsschritte müssen durch die Eigenschaften und Beziehungen der Moleküle zueinander vorgegeben sein und von selbst ablaufen.
 
Der amerikanische Informatiker K. Eric Drexler wagt sich mit seinen Prognosen besonders weit vor. Er sieht Chancen zur Realisierung von molekularen Maschinen, die unentwegt Nahrung erzeugen oder im Erdreich gezielt nach Schadstoffen suchen und diese abbauen. Er prophezeit Metastasen fressende Moleküle, welche die Krebstherapie erledigen und intelligente Straßenbeläge, die Solarenergie erzeugen — und all diese Maschinen sollen eigenständig arbeiten und sich sogar von selbst reproduzieren. Und das alles, wohlgemerkt, ohne dass irgendwelche unerwünschten Nebeneffekte auftreten oder diese eigenständigen Maschinen sich »selbstständig machen«. Er wagt sogar die Prognose, mittels Nanotechnologie könne die Qualität unserer Atmosphäre wieder auf den Stand von 1800 gebracht werden, und es könnten ausgestorbene Arten wie im Film »Jurassic Park« wieder zum Leben erweckt werden.
 
 Schöne Neue Nanowelt?
 
Steht uns also die schöne neue Welt der Nanotechnologie bevor? Hier kommt nun die gesellschaftliche Dimension der Frage nach der Zukunft der Mikrotechnik ins Spiel: Im Zeitalter der Globalisierung, an der Schwelle zum neuen Jahrtausend steht unsere Gesellschaft vor einem Umbruch, der nicht zuletzt auch durch die aktuellen technischen Entwicklungen getrieben wird, aber großenteils selbst nicht technischer Natur ist. Technik versetzt uns in die Lage, die Ausbeute der Landwirtschaft und die Effizienz aller Industriezweige zu steigern und damit globale Märkte zu beliefern. Dennoch: Dem Hunger und dem Anwachsen des wirtschaftlichen Gefälles zwischen Nord und Süd konnte dadurch bisher noch kein Einhalt geboten werden, im Gegenteil: Es kommt wegen der wirtschaftlichen Unterschiede immer häufiger zu Spannungen und Konflikten. Durch das weltumfassende Informationsnetz bleibt keine Katastrophe oder Auseinandersetzung unbemerkt, doch führen diese Informationen auch zur Vermeidung neuer Katastrophen?
 
Macht neue Technik die Welt wirklich besser? Oder hebt sie das alltägliche Chaos nur auf eine andere Ebene? Verändert sie die Gesellschaft? Oder gibt es »die« Gesellschaft gar nicht, lediglich mehrere Gesellschaften, von denen die eine in Notunterkünften verzweifelt darüber nachdenkt, wie der nächste Tag lebend überstanden werden kann, während die andere fasziniert vor den Monitoren sitzt und die Bilder betrachtet, die Raumsonden aus vielen Millionen Kilometern Entfernung von anderen Planeten oder Monden übermitteln? Zweifellos bedarf die Welt auch anderer als nur technischer Lösungen. Politische und wirtschaftliche Entscheidungen sind geboten, da die sozio-ökonomische Entwicklung unseres Planeten der technischen weit hinterherhinkt. Denn es steht außer Frage, dass viele technische Entwicklungen unser Leben verändert haben und in Zukunft verändern werden; fraglich ist nur, ob es sich um Verbesserungen handelt und vor allem, welchen Menschen und welchen Staaten diese zugute kommen.
 
 
Techniken, die als aussichtsreich gelten, in der nahen Zukunft einen großen, umfassenden Einfluss auf unser aller Leben auszuüben und weit reichende Veränderungen anzustoßen, nennen wir oft Schlüsseltechnologien. In diesem Wort schwingt viel Hoffnung mit; die Hoffnung nämlich, dass diese Technologien den Schlüssel zur Lösung umfangreicher, eben auch nicht technischer Probleme liefern. Parallel zu diesen verbreiteten Hoffnungen macht sich aber auch eine zunehmende, teils unterschwellig, teils offen geäußerte Technikfeindlichkeit bemerkbar, deren Kritik häufig gerade auf die Schlüsseltechnologien abzielt. Es wird bezweifelt, dass technischer Fortschritt mit gesellschaftlichem Fortschritt gleichgesetzt werden kann. Und diese Zweifel sind sicher berechtigt. Denn zur Verringerung des Abstands zwischen technischer und sozialer Entwicklung kann die Technik selbst nur wenig beitragen. Der Wert der Technik, oder sollen wir sagen ihr »eigentlicher Erfolg«, wird bestimmt durch den Zweck, den man ihr zuweist, was man aus ihr macht, wie man sie einsetzt — nie durch die Technik per se.
 
Die geäußerte Kritik zielt dabei auf die Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft, aber auch auf Forscher und Techniker, die sich alle mit dieser Kritik ernsthaft auseinander setzen sollten. Politiker und Ökonomen neigen dazu, relativ kurzfristigen Zielen einen größeren Stellenwert beizumessen als langfristigen Weichenstellungen — seien es Wahlerfolge, Profiterwartungen oder der berüchtigte »Shareholder Value« einer Aktiengesellschaft. Wissenschaftler wiederum neigen bekanntlich dazu, in ihrer Wissenschaft eher einen ästhetischen Selbstzweck zu sehen als die Möglichkeit, etwas Größeres zu bewegen.
 
Rührt die Technologiefeindlichkeit unserer Zeit nur von den Kritikern her oder wurde sie nicht zu einem hohen Anteil von den Kritisierten selbst ausgelöst? Als Beispiel mag das Hochjubeln der Energiegewinnung aus Kernkraft in den 1960er-Jahren dienen, das begleitet war von dem vollständigen Ignorieren aller langfristig zu erwartenden Entsorgungsprobleme. Diese starre und voreilige Festlegung der Politiker und Wissenschaftler auf einen bestimmten Weg hat sicher zu der weit verbreiteten kritischen Einstellung gegenüber der Kernenergie mit beigetragen. Ebenso falsch sind vermutlich die recht pauschalen Lobpreisungen der mit der Gentechnologie verbundenen Verheißungen, die auch ohne ein »gentechnisches Tschernobyl« vielleicht bald einer Ernüchterung weichen werden.
 
Die vielfältigen komplexen Zusammenhänge zwischen Chancen und Risiken solcher Technologien müssen ebenso wie ihre gesellschaftlichen Folgen nicht nur von Wissenschaftlern untersucht und verstanden werden. Sie müssen auch der breiten Öffentlichkeit in ihren Kernpunkten vermittelt werden — mit all den offenen Fragen und laufenden Diskussionen. Dies ist in der Vergangenheit nur höchst unzureichend geschehen. Wenn unsere demokratische Gesellschaft einen mündigen Bürger voraussetzt, dann sollte sie ihn auch als solchen behandeln. Nur informierten Menschen kann man Ängste nehmen, nur wer trotz einer abweichenden Meinung ernst genommen wird, wird konstruktive Kritik äußern.
 
Hier sind die Forscher und Techniker, die an der vordersten Front der wissenschaftlichen Entwicklung stehen, in mehrfacher Weise in der Pflicht. Forschung wird zu einem großen Teil aus staatlichen Einkünften, letztlich also Steuergeldern, finanziert. Grundlagenforschung, die Antworten sucht auf die berühmte Frage, was »die Welt im Innersten zusammenhält«, gehört ebenso dazu wie die angewandte Forschung, die sich die Umsetzung ihrer Ergebnisse in sinnvolle technische Produkte eigentlich auf die Fahne geschrieben haben sollte. Grundlagenforschung ist integraler Teil unserer Kultur. Aber auch Grundlagenforscher und in noch viel stärkerem Maße »angewandte« Forscher sind verpflichtet, über Möglichkeiten und Auswirkungen ihrer Forschung intensiv nachzudenken, Wege aufzuzeigen, Risiken nicht zu verschweigen, Chancen realistisch darzustellen, Querverbindungen herzustellen, kurz: den möglichen Nutzen und Schaden für die Gesellschaft zu benennen und so ihr Tun zu rechtfertigen. Dabei dürfen der Gesellschaft keine Informationen vorenthalten werden, auch wenn sie vielleicht das eigene Projekt infrage stellen könnten. Und diese Informationen müssen in aufbereiteter, verständlicher Form weitergegeben werden. Forscher, die sich zu schade sind, dem »einfachen Mann« zu erklären, was sie tun, warum sie es tun und was sie sich daraus erhoffen, dürfen sich nicht wundern, wenn sie als Quittung Unverständnis, ja Ablehnung und letztlich womöglich Bekämpfung erfahren. Umgekehrt kann sich eine rechtzeitig und umfassend informierte Gesellschaft doch wohl viel eher auf eine möglicherweise riskante neue Technologie einlassen, wenn sie die mit ihr verbundenen Chancen als hoch genug bewertet.
 
 Die Chance der Mikrotechnik
 
Was heißt das bisher Gesagte nun für die Mikro- und Nanotechnologie? Die Mikrotechnik ist eine relativ junge Schlüsseltechnologie, die sich durch ein besonders hohes Maß an Interdisziplinarität auszeichnet. Sie nutzt verschiedenste Verfahren sowohl aus konventionellen als auch aus gänzlich neuen Bereichen und entwickelt diese weiter; dabei ist sie in hohem Maße auf Entwicklungen der Werkstoffkunde angewiesen. Da sie Problemlösungen für praktisch alle denkbaren Anwendungsbereiche und Märkte sucht, spricht sie auch ein entsprechend großes »Publikum« an. Aufgrund ihrer vielfältigen und oft augenfälligen Anwendungsmöglichkeiten ist es relativ leicht, Grundlagen und Anspruch der Mikrotechnik der Öffentlichkeit zu vermitteln. Hinzu kommt, dass mit dem Begriff »Mikrotechnik« (noch?) keine negativen Assoziationen verbunden sind; es wurde noch keine größere Katastrophe durch ein mikrotechnisches Produkt ausgelöst, man kann sich auch kaum eine solche Katastrophe vorstellen. Dagegen stehen die Möglichkeiten der Mikrotechnik, durch Energie- und Materialeinsparungen zum Umweltschutz beizutragen. Mikrotechnische Produkte für die Messtechnik, die Medizintechnik und die Telekommunikation sind kaum mit negativen Aussagen besetzbar. Allenfalls miniaturisierte Überwachungskameras oder Mikrokampfroboter wie die »Schwarze Witwe« könnten Ängste auslösen. Jedoch sind Waffen oder Kameras im Großformat sicherlich genauso oder sogar noch in höherem Maße bedrohlich; die Miniaturisierung ist in der Waffen- und Überwachungstechnik eher eine Begleiterscheinung als eine treibende Kraft. Natürlich könnte man auch vor einer unkontrollierten Vermehrung sich selbstständig machender Molekularmaschinen Angst bekommen — doch die Realisierbarkeit einer solchen Vision ist, wie gesagt, in Fachkreisen zumindest umstritten. Kurz und gut: Die Produkte der Miniaturisierung sind schlimmstenfalls entweder nutzlose Spielereien oder Begleiterscheinungen anderer schädlicher Entwicklungen, oft aber sind sie unmittelbar als nützlich zu erkennen.
 
Die Mikrotechnik und ihre jüngere Schwester, die Nanotechnologie, verfügen somit über gute Voraussetzungen, eine dauerhafte breite Akzeptanz zu erreichen. Diese Akzeptanz ist wichtig für den Konsens zwischen denen, die mikrotechnische Produkte entwickeln, herstellen und anbieten und denjenigen, die sie kaufen, nutzen oder anderweitig von ihnen profitieren sollen. Die Akzeptanz ist damit auch eine Frage der wirtschaftlichen Rolle, welche die Mikrotechnik in den hoch entwickelten Ländern spielen wird. Sie entscheidet mit über Fragen der Konkurrenzfähigkeit von Standorten und ist damit von arbeitsmarktpolitischer Relevanz. Und noch ein Aspekt, welcher der Mikrotechnik die Richtung der zukünftigen Entwicklung weisen kann, ist für die Akzeptanz der Mikrotechnik und der Nanotechnologie ungemein wichtig. In der Mikrotechnik, vor allem bei Anwendungen der Mikrofluidik in der Verfahrenstechnik und der Biotechnologie, aber auch bei optischen und mechanischen Problemstellungen folgt man bei vielen Problemlösungen dem »sanften« Vorbild Natur, das ja allgemein mit positiven Assoziationen verbunden ist.
 
Wir stehen mit der Mikrotechnik und bald auch mit der Nanotechnologie — wie so oft in der Forschung — am Beginn einer neuen Ära, die uns mit ihren Fragestellungen und den damit verbundenen Möglichkeiten fasziniert und gefangen nimmt. Mit vielen Visionen haben Mikrotechnik und Nanotechnologie die Science-Fiction der letzten Jahrzehnte bereits eingeholt und beweisen uns täglich, dass nichts spannender ist als die Realität der Forschung und Wissenschaft. Wenn auf diesem Weg mit Augenmaß, Sachverstand und Verantwortungsbewusstsein weitergeschritten wird, so könnte die Nanotechnologie ein gutes Beispiel für die erfolgreiche Etablierung einer Schlüsseltechnologie als allgemeiner Bestandteil unserer Wirtschaft und Kultur werden.
 
Dr. Hans-Dieter Bauer
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Miniaturisierung: Von der Elektronenröhre zum Mikrochip
 
 
Bachmann, Gerd: Innovationsschub aus dem Nanokosmos. Technologieanalyse. Düsseldorf 1998.
 Drexler, K. Eric / Peterson, Chris: Experiment Zukunft. Die nanotechnologische Revolution. Aus dem Englischen. Bonn u. a. 1994.
 Groß, Michael: Expeditionen in den Nanokosmos. Die technologische Revolution im Zellmaßstab. Basel u. a. 1995.
 Schulenburg, Mathias: Nanotechnologie. Die letzte industrielle Revolution? Frankfurt am Main u. a. 1995.

Universal-Lexikon. 2012.

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